Ghetto - Anke Brandt

Momentaufnahmen meines literarischen Wirkens
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Anke Brandt
Ghetto
 
Eigentlich war das Leben sehr einfach geworden.
Die Regierung schrieb einem genau vor, wo man sich wann aufhalten durfte und man war immer unter Gleichgesinnten.
Dadurch hoffte Edgar auch, dass sich die Suche nach passenden Frau für ihn einfach gestalten würde.
Edgar war jetzt 34 Jahre alt, 1,80 m groß, hatte dunkle kurze Harre und er trug eine Brille.
Damit schränkte sich die Suche nach einer Frau schon mal ein. Denn für ihn kam auch nur eine Brillenträgerin in Frage. Menschen mit gesunden Augen ohne irgendeine Sehschwäche blieben unter sich.
Doch Edgar hatte noch ein Problem. Er litt unter einer ausgeprägten Stauballergie. Damit war sein Leben um einiges eingeschränkt als das allergiefreier Leute.
Es gab in der ganzen Stadt nur zwei Lokale und ein Kino, wo Edgar hingehen konnte.
Früher, so hatte man ihm mal erzählt, bekamen Allergiker Medikamente. Doch das war lange vorbei, da die Regierung die Herstellung dieser Medikamente verboten hatte. Sie kosteten zu viel Geld und brachten keine Heilung. Das konnte sich der Staat nicht leisten, seitdem die Steuereinnahmen durch Benzin und Tabak drastisch zurückgegangen waren. In der Stadt fuhren kaum noch Autos, da sich keine Privatperson die enormen Kosten für Benzin mehr leisten konnte. Und dass die Tabaksteuer nicht mehr die Haushaltskassen füllte, lag wohl daran, dass man als Raucher einen Raucherpass offen an der Kleidung tragen musste. Und damit durfte man außer in die kleinen Raucherhallen, die an drei Stadtenden lagen, nirgends mehr hingehen. Man war so etwas wie ein Aussätziger, und wer wollte das schon sein? Selbst die Wohnungen waren alle mit Rauchmeldern ausgestattet, man hatte also keine Wahl und so gab es nur noch sehr wenige Menschen, die von der Sucht nicht lassen konnten und wollten und die sich in die Raucherasyle zurückzogen. Es sollten in der ganzen Stadt nur noch ungefähr 120 Raucher sein.
Das jedoch war nicht Edgars Problem.
Sein Problem war die eigene Auswahlmöglichkeit, um irgendwo eine Frau kennen zu lernen.
Da war zunächst das Brillenträgerkino. Das ließe sich vielleicht machen, doch wegen der gepolsterten Sitze musste Edgar eine Atemschutzmaske tragen. Diese verdeckte sein halbes Gesicht, und er konnte so auch nur nach einer Frau mit Maske Ausschau halten. Doch mal ehrlich, wer wollte schon die Katze im Sack kaufen? Wer wusste denn, was sich hinter der Maske verbarg?
Also blieben die Allergiker-Lokale. Da gab es das kleine Bistro in der Innenstadt und das Schnellrestaurant am Bahnhof. Das waren zwei steril eingerichtete Lokalitäten, die fast nur aus Metall bestanden und stündlich gereinigt wurden. Diese Reinigungen dauerten immer 15 Minuten, also blieben den Gästen jeweils 45 Minuten für ihren Aufenthalt dort. Zum Essen reichte das gewiss, aber um jemanden kennen zu lernen? In dieser kurzen Zeit schaffte man es bestimmt nicht, eine Frau so weit anzubaggern, dass sie einen nach Hause begleitete.
Nein, auch ein Restaurantbesuch war keine Lösung.
Doch eine passende Frau musste her, die Zeit lief ab. Wenn Edgar mit 37 Jahren nicht verheiratet war, musste er in das Männerviertel der Stadt umziehen, und dort würde sein Leben bestimmt sein vom vorgegebenen Tagesablauf für nicht verheiratete Männer. Das hieße dann, dass er sich eine Wohnanlage mit 250 anderen Männern teilen musste und sie würden ihr Leben komplett selbst organisieren müssen. Früher hieß so etwas
Kloster, wie Edgar mal gelesen hatte, nur dass die Männer früher freiwillig dort hingegangen sind und ihren Gott verehrten.
Von einem Gott war die Welt heute aber weit entfernt.
Edgar fiel ein, dass es Menschen gab, die noch immer in Geschäften einkauften. Angeblich sollten das mehr Frauen als Männer sein. Er war früher auch mal in so einem Geschäft, als seine Mutter ihm Kleidung kaufen wollte.
Seine Mutter! Wie mag es ihr wohl ergehen? Seit sie vor ein paar Jahren nach einer schweren Nierenbeckenentzündung inkontinent wurde, lebte sie am Ostende der Stadt in der ehemaligen Schwimmhalle, die angeblich zu einem Wohnheim umgebaut worden war.
Edgar war noch nie dort, denn er durfte nicht hinein. Man befürchtete wohl, dass er sich anstecken könnte. So ein Quatsch! Doch den wahren Grund hatte man ihm nie gesagt.
Die inkontinenten Menschen lebten da also in ihrer kleinen abgeschlossenen Welt und störten keinen. Genauso wie Diabetiker, Dialysepatienten, Alkoholiker, Drogenabhängige, Alte, Demente, an Alzheimer und Borreliose Erkrankte, Raucher und wer weiß, was sonst noch alles.
So gesehen hatte Edgar noch Glück. Er musste wegen seiner Stauballergie nur in einen speziellen Wohnblock umziehen, deren kleinen Wohnungen, gut, es war nur ein winziges Zimmer und eine noch winzigere Nasszelle, regelmäßig durch installierte Düsen desinfiziert wurden. Es wohnten auch nur Allergiker in diesem Block, und alle Wohnungen so klein. Aber es waren eben noch eigene Wohnungen. Dieses Glück hatten heute nur noch wenige Menschen. Entweder ganz gesunde oder ganz reiche. Eben die, die noch arbeiten durften und dafür bezahlt wurden.
Edgar bekam jeden Tag sein Essen und Trinken rationiert und dazu monatlich ein kleines Taschengeld, wovon er sich Kleidung kaufen konnte und seine Rechnungen für den Computer bezahlte.
Als Edgar noch ein Kind war, gab es auch schon Krankenhäuser und Alten- und Pflegeheime. Edgar war sogar mal in so einem Krankenhaus drin. Da wurde ihm der Blinddarm operiert. Anschließend wachte er in einem weichen Bett auf, mit gelben Bettbezügen und einem richtigen Federkissen. Und dann waren da Krankenschwestern, die sich rührend um ihn gekümmert hatten. Auch, als er nach einiger Zeit Atembeschwerden und einen mächtigen Schnupfen bekam. Da wusste Edgar noch nichts von seiner Allergie.
Deshalb käme er heute auch in eine Spezialklinik, und davor hatte Edgar Angst.
Da wäre niemand, der ihn trösten würde, die ganze Pflege erledigten sterile Maschinen. Und dann gäbe es auch keine weichen Betten mehr, in denen man gesund werden konnte. Das staubisolierte Bett zu Hause war schon schlimm, eine harte Kiste mit einem Acryldeckel. Wenigstens war es warm darin.
Und an seine Atemschutzmaske hatte sich Edgar auch gewöhnt. Sie verdeckte das halbe Gesicht, doch ohne sie konnte er seine kleine sterile Wohnung nicht verlassen. Aber das war auch nicht oft nötig. Alles, was er brauchte, gab es ja im Internet. In die virtuellen Geschäfte konnte er ohne Maske gehen, und mit Brille, und mit allen Krankheiten und Gebrechen, da fragte niemand. Und die Damen, die ihn dort bedienten, sahen auch immer toll aus. Nicht ganz echt, aber hübsch und freundlich. Aber auch leider nichts zum Heiraten. Denn wer sich hinter diesen Avataren verbarg, konnte man ja nicht feststellen. Auch Edgar sah in der virtuellen Welt ganz anders aus als in Wirklichkeit. Im Netz konnte man sich sein Wunschbild von sich selbst verwirklichen, doch es half in keiner Weise.
Um im Netz eine Frau zum Heiraten zu finden, musste Edgar also tiefer in die virtuellen Welten vordringen. Am besten in eine Diskothek. Da konnte man immer jemanden kennen. Man wusste eben auch nur nie, wen. Doch dieses Risiko wollte Edgar eingehen.
Die Diskothek Maulwurf war sein bevorzugtes Domizil. Obwohl sie so einen blöden Namen hatte. Doch Edgar wusste, dass dort nur Brillenträger hingingen. Als ob alle Leute mit Brille blind wie Maulwürfe wären. Edgar fand das zwar einerseits ganz witzig, doch andererseits auch ziemlich geschmacklos.
Aber gut, vielleicht hatte er ja heute Glück. Und lernte eine junge Frau kennen.
Er musste sie dann nur so weit bringen, dass sie später noch ungestört reden konnten. Edgar musste schließlich einige Dinge in Erfahrung bringen, um zu wissen, ob es sich lohne, die Frau in der wirklichen Welt zu treffen.
Doch bis dahin war es noch ein Stück hin.
Zunächst musste Edgar sein virtuelles Ich auf die Tanzfläche navigieren. Und damit fingen die Probleme schon an. Es fehlte ihm an Übung, den virtuellen Körper lebensecht zu bewegen. Seine abgehackten Bewegungen machten zwar auf ihn aufmerksam, doch sie beeindruckten bisher noch nie eine Frau.
Edgar gab heute aber nicht auf. Es musste doch in diesem verdammten
German Web eine Frau geben, die zu ihm passte. Und es konnte nur eine Frau aus dem German Web sein, denn der Rest der Welt war tabu. Die meisten Länder der Welt hatten sich von Deutschland abgewandt und duldeten dieses Land nur, weil es sich vollständig isoliert hatte.
Und eine eheliche Verbindung zu einem Menschen aus einem anderen Land war aus rein bürokratischen Gründen schon gar nicht möglich.
Aber in den Maulwurf kamen sowieso nur deutsche User rein. Edgar wusste nicht, dass man in anderen Ländern noch körperlich tanzen ging.
Da! Da ist sie!«
Edgar hatte soeben die junge Frau entdeckt, die er schon seit einiger Zeit beobachtete. Sie saß meist abseits und schaute sich die Tanzenden nur an. Ab und zu zuckte ihr virtueller Körper, doch auf die Tanzfläche wagte sie sich scheinbar nicht.
Edgar griff an.
Er stakste auf die Frau zu, setzte sich unaufgefordert neben sie und versuchte, sie über die laute Musik hinweg anzusprechen. Ihr Kopf ruckte herum und sie stießen mit den Schädeln aneinander. Verdammt, so wird das nie etwas.
Doch das war ein Irrtum. Die Frau brüllte Edgar eine Zahlenfolge zu und verschwand einfach.
Sollte das ihre Telefonnummer gewesen sein?
Edgar verschwand ebenfalls aus der Diskothek, setzte seinen Netzhelm ab, den Phonehelm auf und hämmerte die Zahlen 111936824 in die Tasten.
Und da war sie wieder. Sie sah anders aus und Edgar verschlug es für einen Moment die Sprache. Doch sie fing gelassen das Gespräch an. Sie entschuldigte sich für die Kopfnuss und fragte Edgar nach seinem Namen. Dann verriet sie ihm, dass sie Paula heiße, 29 Jahre alt sei und ebenfalls hier in der Stadt wohne. Das hatte sich Edgar schon gedacht, sonst hätte das mit dem Anruf gar nicht funktioniert. Also hatte sie wohl schon gewusst, dass er hier lebte.
Edgar wollte nun von Paula wissen, was sie sonst so tat, außer den Maulwurf zu besuchen, damit er einschätzen konnte, ob sie zu ihm passte.
Paula redete vom Kino und von einem Bistro. Mehr nicht. Konnte es möglich sein?
Edgar nahm all seinen Mut zusammen und fragte, in welches Kino sie denn immer gehe. Und er freute sich. Es war das Staubfreie.
Sollte das wirklich wahr sein?
Edgar schlug eine Verabredung vor, in eben jenem Kino. Nun wusste sie, dass auch er eine Stauballergie hatte.
Am nächsten Abend sollte der uralte Klassiker Harry Potter und die Heiligtümer des Todes laufen. Der Film war genauso weltfremd wie seine Vorgänger; Edgar kannte alle sieben Filme. Doch sie waren trotzdem ganz nett gemacht. Diese historischen Verfilmungen gefielen ihm gut. Da konnte man schön dabei träumen, wie es wäre, wenn ...
Paula stimmte zu. Morgen Abend, 19.30 Uhr im Staubfreien.
Der Abend im Kino verlief wunderbar. Fast 3 Stunden auf einem Metallhocker, doch was machte das schon, wenn Paula danebensaß. Dann der Film auf der sogenannten Leinwand, die aus purem Kunststoff bestand.
Edgar hatte mal gehört, dass es auch andere Kinos gab, wo die Zuschauer mitten im Geschehen saßen. Doch ob das stimmte, wusste er nicht, denn angeblich gab es diese Kinos nur mit Polstersesseln, in denen man sich anschnallen musste. Er hielt es für ein Gerücht.
Nach dem Kino, Edgar und Paula hatten nun ihre Masken aufgesetzt, gingen die beiden noch durch die Stadt. Sie schlenderten einfach so dahin und fingen irgendwann an, die vielen Verbotsschilder zu studieren, die überall an den Eingangstüren angebracht waren. Und das waren eine Menge. Paula stellte fest, dass es einfacher wäre, statt der vielen Verbots­schilder einfach ein Erlaubnisschild aufzuhängen. Denn an den meisten Türen hingen ganz oben die Schilder für Alkohol verbot, Rauchverbot, Drogenverbot, dann folgte schon ganz oft Allergieverbot, Über-50-Verbot, manchmal war das Arbeitslosenverbotsschild dabei, und für Krankheiten aller Art gab es auch sehr oft Schilder.
Edgar und Paula gingen immer weiter. Die Straßen wurden zu Gassen, die Gegend immer unwirtlicher und dann kamen sie irgendwann an eine Tür, die nur ein einziges Verbotsschild hatte: Kein Zutritt für Politiker.
Edgar sah Paula an, und Paula Edgar.
Das gibt es doch nicht, kann das möglich sein?
Hat da jemand wirklich den Mut, die Politiker mit ihren eigenen Waffen oder besser gesagt Gesetzen zu schlagen?
Sie wollten es wissen und traten ein.
Laute Musik, blauer Qualm und Alkoholdunst schlugen ihnen entgegen. Dazu laute Stimmen in der übervollen Schankstube.
Hier waren Frauen, Männer, Alte, Junge, Gebrechliche versammelt und alle fühlten sich wohl.
Wer wollte, bekam ein Bier, wer nicht, trank eben was anderes. Es wurde geraucht, das allerdings nur im hinteren Teil der Schankstube, wo Lüfter für frische Luft sorgten.
Keiner scherte sich darum, ob jemand irgendwelche Krankheiten hatte.
Hier waren einfach nur Menschen versammelt, die für kurze Zeit einfach das sein wollten: Menschen.
Edgar lud Paula auf ein Bier ein, das erste in ihren Leben. Es schmeckte scheußlich. Und für mehr reichte das Geld auch nicht. Doch sie unter­hielten sich noch prächtig an diesem Abend.
Sie kehrten noch oft hierher zurück.
Und nie fragte einer, was sie in ihrem Leben da draußen taten.
Edgar und Paula übten dort auch das richtige Tanzen und bei einem ihrer Besuche fragte Edgar seine Paula dann auch, ob sie ihn heiraten wolle.
Paula wollte.
Auch sie fürchtete sich vor einem Leben im Frauenviertel der Stadt. Ihre Mutter lebte dort, seit ihr Vater ins Alzheimerzentrum eingeliefert wurde. Das wollte Paula auf keinen Fall. So heirateten Edgar und Paula. Nicht aus Liebe, sondern aus Angst vor einer Zukunft, die sie beide fürchteten. Nach der Hochzeit, die die beiden ganz allein begingen und in ihrer Nicht- Politiker-Kneipe feierten, bekamen sie vom Staat eine etwas größere Wohnung in dem Haus zugewiesen, in dem Edgar schon lange lebte. In diese Wohnung passte nun genau ein Bett mehr hinein als in seine Single- Wohnung, doch Edgar war glücklich, und Paula auch.
Einige Wochen später, das junge Ehepaar war mal wieder in seiner Kneipe, bemerkten sie unter den anwesenden Gästen ein Kind. Ein kleiner Junge von vielleicht 5 Jahren.
Wer kam denn auf die Idee, ein Kind mit hierher zu bringen?
Es klärte sich schnell auf, dass es der Sohn des Wirtes war, der es ge­schafft hatte, seinen Sohn bei sich zu behalten und nicht in eine Kinderein­richtung geben zu müssen.
Wie er das hinbekommen hatte? Er hatte seinen Sohn den Behörden schlicht und einfach verheimlicht. Dieses Kind existierte in den Dokumenten des Staates nicht. Es war nirgends registriert. Doch der Preis war hoch gewesen. Die Wirtsleute hatten die Schwangerschaft verheimlicht und die arme Frau und Mutter des Kindes starb bei dessen Geburt.
Doch der Vater hatte immer die Hoffnung, dass es seinem Sohn eines Tages besser gehen würde als den allermeisten Bewohnern dieses Landes, denn er wollte seinen Sohn zu gegebener Zeit über die Grenze schmuggeln, damit dieses Kind in einem anderen Land aufwachsen und über die Zustände in Deutschland berichten konnte. Und genau deshalb saß der Junge oftmals mit in der Kneipe und lauschte den Worten der anwesenden Gäste.
Und bei diesem Anblick kam in Edgar eine ganz frühe eigene Kindheitserinnerung hoch.
In genauso einer Kneipe war er als ganz kleiner Junge mit seinem Vater gewesen.
Sein Vater saß am Tresen, trank ein Bier nach dem anderen und redete über die gute alte Zeit. Und dann sagte er einen Satz, den Edgar in diesem Moment, also 30 Jahre später, erst verstehen sollte.
»Und angefangen hat das alles damit, dass irgendein Idiot das Wort Ghetto in die Markierung der Raucherinsel auf dem Bahnsteig geschmiert hat.«
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