Salbeiduft - Anke Brandt

Momentaufnahmen meines literarischen Wirkens
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Anke Brandt
Salbeiduft

Der Wagenzug bildete auf dem Platz ein riesiges Karree, wobei eine Seite von mächtigen Dampfmaschinen eingenommen wurde. Carl Hagenbeck bestand darauf, dass Mensch und Tier während der gesamten Reise mit Licht, Wärme und warmem Wasser versorgt wurden. Erst im letzten Winter hatte er etliche Verluste bei einer Schau in Bremen hinnehmen müssen, weil er an Heizkosten gespart hatte. Aber die Exoten konnten ihm nur dienlich sein, wenn sie unter Umständen lebten, unter denen sie in ihrer Heimat aufgewachsen waren. Zum Beispiel brauchten die Rentiere, seine neueste Errungenschaft aus Lappland, wesentlich tiefere Temperaturen als die Kamele und Leguane. Den Lärm der Dampfmaschinen nahm er dabei für sich, seine Angestellten, die Exoten und die Tiere in Kauf.
 
Momentan zogen die Inuit, welche Hagenbeck zusammen mit den Rentieren erworben hatte, die deutschen Zuschauer wie Magneten an. Früher, als er reine Tierschauen veranstaltet hatte, war sein Einkommen gut genug gewesen, um über die Runden zu kommen. Doch dann hörte er von Völkerschauen und deren unglaublicher Beliebtheit beim Volk, sodass er neben exotischen Tieren auch die Menschen fremder Völker für seine Show verpflichtete.
 
Eines musste man Hagenbeck lassen: Er behandelte Mensch und Tier immer gut. So gehörten zu seinem Wagenzug stets die mobilen Dampfgeneratoren, die ein Schweizer Ingenieur für ihn gebaut hatte. Und den Betreiber dieser Maschinen lieferte der Schweizer gleich mit: den buckligen Jack.
 
In Berlin nun hatte Jack wenig zu tun, denn die Temperaturen lagen im Juni weit über 20 Grad Celsius. Lediglich für Licht und warmes Wasser musste der Bucklige sorgen. Abends gehörte er zu den besonderen Attraktionen der Schau.
 
*

»Komm her, meine Kleine, komm«, lockte der Bucklige das Mädchen. Sie hüpfte auf ihren Händen zu ihm. Bimba liebte Jack, der immer zu einem Scherz aufgelegt war und sich niemals daran störte, dass sie keine Beine hatte. Im Gegenteil, er ermunterte sie sogar, dass sie ein normales Leben führen und sich nicht jeden Abend dem Gelächter der gaffenden Leute aussetzen sollte. Doch Bimba wusste es besser. Mit ihren gerade mal acht Jahren hatte sie eines gelernt: Für sie würde es niemals so etwas wie Normalität geben. Das beste Beispiel dafür war der bucklige Jack, der, solange sie ihn nun kannte, ein Bestandteil der Schau war. Und das war für das kleine Mädchen mit der schokoladenbraunen Haut und dem dunklen Kraushaar genauso unnormal wie ihr eigenes Dasein. Mit dem Unterschied, dass Jack ein alter Mann war. Wie alt, vermochte das Kind nicht zu sagen, doch es hatte vor ein paar Tagen einige graue Haare zwischen den vollen Locken ihres Freundes entdeckt.
 
»Und? Wirst du heute Abend wieder auf die Bühne gehen und dich auslachen lassen?«, fragte Jack.
 
»Was soll ich denn tun? So ein Abend geht vorüber. Und hier ist jetzt mein Zuhause.« Traurig senkte Bimba den Blick. »Und außerdem hat der Meister gesagt, dass die meisten Leute wegen mir in die Schau kommen. Wenn ich nicht wäre …«
 
»Ach, papperlapapp«, hielt Jack dagegen. »Die Schau gab es schon vor dir und es wird sie auch nach dir geben. Lass dir nicht zu viel einreden. Wenn die Leute das Interesse an dir verlieren, dann stehst du vor dem Nichts.«
 
Der Bucklige wusste genau, wovon er sprach. Einst war er die Attraktion der Hagenbeck’schen Tierschau gewesen. Doch dann musste Carl Hagenbeck ja unbedingt mit den Exoten beginnen. Die Tiere reichten nicht mehr aus, er sammelte die Menschen aus den Ländern gleich mit ein. Und plötzlich verloren die Zuschauer das Interesse an Jack. Bucklige gab es in jeder Stadt und mit ein bisschen Übung würden sie auch kleine Kunststücke vollführen können. Doch zu Jacks Glück verschwanden während so einer Reise die meisten der Exoten und Missgebildeten. Sie waren einfach weg und tauchten nie wieder auf. Ein Rätsel, welches es zu lösen galt …
 
Der Bucklige blieb. Er betreute die mobilen Dampfmaschinen der Tierschau. Darin war er wirklich gut. Er konnte sie nicht einfach nur anheizen und bedienen, sondern er hatte auch gelernt, sie instand zu halten und selbst kleinere Reparaturen vorzunehmen. Das sparte Hagenbeck viel Geld und eine Menge Zeit. Er wusste die Dienste des Buckligen sehr zu schätzen.
 
»Aber Meister Carl hat gesagt …«, setzte Bimba wieder an.
 
»Mädchen, du darfst nicht alles glauben. Und jetzt komm, zeig mir deinen Kopfstand, ja?«
 
Bimba grinste ihn breit an und stellte sich auf den Kopf. Das Gesicht des Buckligen verdüsterte sich, denn er sah eine Eleganz und Sicherheit bei dem Kind, die nicht zu übertreffen war. Das hieß, dass nach ihrem Auftritt ganz sicher wieder Buhrufe zu hören waren, wenn er selbst sich dem Publikum stellte. Es war jedes Mal das Gleiche …
Erik Schreiber (Hrsg.)
Geheimnisvolle Geschichten 2: Steampunk
Anthologie, Verlag Saphir im Stahl, Bickenbach, Juli 2011, 208 Seiten, 15,95 EUR, ISBN 9783981382334

Synopsis: Seit 2011 ist dieses Buch im Programm. Eine Kurzgeschichtensammlung zum Thema Steampunk. 14 Autorinnen und Autoren erzählen spannende Geschichten. Der Hintergrund ist ein Deutschland vor der 1900er Jahrhundertwende. Von Deutschland bis Österreich finden sich interessante Schauplätze und Begebenheiten. Krimi, Thriller und andere Grundthemen beherrschen die Geschichten.



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