Rot und vorbei - Anke Brandt

Momentaufnahmen meines literarischen Wirkens
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Gloomy Tomb
Rot und vorbei

Vorbei.

Bis vor wenigen Wochen verlief ihr Leben in geordneten Bahnen, doch nun war es vorbei. Obwohl sie es gehasst hatte, als sie noch Teil des täglichen Trotts war, sehnte sie ihn nun herbei.

Jeden Morgen der gleiche Ablauf; Wecker klingeln, Morgendusche, Zähneputzen, Kaffee kochen, Frisieren, Ankleiden, Kaffee trinken und dann fast in Panik geraten, dass man den Morgenbus verpasst.

Im Bus dann das übliche Geplänkel, die Morgennachrichten, Tipps zur Kindererziehung oder Kochvorschläge wurden ausgetauscht. Aussteigen, Stechkarte herauskramen und los ging es. Aus dem am Vortag erst sorgfältig aufgeräumten Schreibtisch im Großraumbüro wurde binnen Minuten ein einziges Schlachtfeld, nachdem der Chef der Abteilung die Arbeit verteilt hatte. Und um 8.10 Uhr sah alles danach aus, dass das Pensum nie und nimmer zu schaffen war. Deshalb arbeiteten einige der Mitarbeiter ohne Pause durch, damit sie wenigstens pünktlich Feierabend machen konnten.

Eine junge Frau, hübsch anzusehen mit ihren braunen kurzen Haaren und der kleinen Stupsnase im Gesicht, brütete mit 17 weiteren Kollegen in diesem Büro. Keiner sprach ein Wort, man hörte nur das Rascheln von Papier und das Klappern der Computertastaturen.

Alles schien normal, doch in der stupsnasigen Frau brodelte es. Sie wusste, dass der Chef einige Mitarbeiter, darunter auch sie, schikanierte. Das Arbeitspensum, das er ihnen vorgab, war viel zu hoch. Sie hatte schon mehrfach versucht, mit ihm darüber zu reden, doch jedes Mal drohte ihr Vorgesetzter nur damit, dass sie auch gehen könne, wenn ihr die Arbeit zu viel sei.

Diese Worte wurden meist von einem fiesen Grinsen untermalt. Der Chef hasste die junge Frau. Und sie, Florentina König, stand vor einem Rätsel. Denn sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, woher dieser Hass kam. Doch sie erfuhr recht bald, wohin er führte, denn die Willkür dieses einzelnen Vorgesetzten ließ Flora von heute auf morgen zu dem Heer der Arbeitslosen gehören. Und wer erst einmal dazugehörte, hatte es schwer, daran etwas zu ändern.

Es sei denn … es geschah ein Wunder.

Ein Wunder?

Davon hatte Flora noch nie gehört. Und dennoch, tief in sich drin hoffte natürlich auch sie auf ein solches. Aber Wundern musste man im Allgemeinen selbst auf die Sprünge helfen. Und wie sie das anstellen sollte, war ihr ebenfalls ein Rätsel.

Doch bis sie sich mit einem Wunder beschäftigen konnte, musste sie erst einmal etwas anderes erledigen.

Rache!

Rache ist kein guter Gedanke. Und dieses Gefühl in sich kann einen Menschen auf Dauer verzehren, wenn man ihm nicht irgendwann nachgibt. In Flora fraß der Rachegedanke erst seit einigen Wochen, dennoch schlich er sich immer wieder und mit der Zeit auch immer öfter in ihr Denken hinein und beherrschte es fast vollkommen.

Klar, gehasst zu werden, ohne zu wissen warum, ist sicher ein Grund. Aber dass es sie so sehr beherrschte, war dennoch übertrieben, wie sie manchmal fand. Jedoch konnte sie es nicht unterbinden, der Gedanke war ständig da.
Sie musste etwas dagegen tun, wenn sie sich davon befreien wollte.

Was?

Flora lauschte in sich hinein. Ihre Rache zielte natürlich auf eine einzige Person – Daniel Schwarz. Dieses Arschloch war es gewesen, der ihr Leben ruiniert hatte. Wegen ihm allein saß sie jetzt auf dem Amt und wartete, bis ihre Nummer aufgerufen wurde.

Dan!

Dieser Typ verfolgte ganz eigene Ziele und ging dabei über Leichen. Flora war nicht die Erste, die er aus der Firma herauskatapultiert hatte, aber ob sie die Erste war, der es passierte, weil sie ihm Widerworte gegeben hatte, das wusste sie nicht.

Wenn ein Mitarbeiter nicht mehr erschien, saß am nächsten Tag schon ein neuer auf seinem Stuhl. Niemand hinterfragte das, dafür war gar keine Zeit. Lediglich Dan Schwarz war an den Tagen, wenn ein Neuer oder eine Neue im Büro anfing, noch fieser als sonst. Er tat freundlich, doch wer ihn länger kannte, sah hinter dem Lächeln, welches er an solchen Tagen zur Schau trug, erst recht sein wahres Gesicht.

Diese machtgeile, arrogante Fratze.

Die Neuen krochen natürlich zunächst vor diesem freundlichen Chef, wollten ihm beweisen, dass er mit ihnen die richtige Wahl getroffen hatte. Dafür steckten sie meist schon am ersten Tag derbe Beleidigungen in Form von zuckersüßen Worten ein.

Flora war nicht dazu erzogen worden, zu allem Ja und Amen zu sagen. Sie war eine junge Frau, die ihre eigene Meinung hatte und diese auch vertrat. So hatte es ihr schon ihr Großvater beigebracht, als sie noch ein kleines Mädchen war. Er wollte, dass seine Enkelin nicht eine von Millionen Drückebergern wurde, die ihr Leben lang nur taten, was man von ihnen erwartete. So, wie Maschinen funktionierten.

Großvater!

An ihn hatte Flora bei der ganzen Sache noch gar nicht gedacht.

Sie sollte ihn besuchen. Er wusste bestimmt Rat. Er wusste immer Rat.

Das Band, welches zwischen den beiden bestand, hielt auch über den Tod hinaus, hatte er immer gesagt. Ihre Seelen seien verwandt.

Was genau das bedeutete, hatte das siebenjährige Mädchen damals nicht verstanden. Doch die 28-jährige Frau wusste es nun.

Die Seele ihres Großvaters war immer in ihrer Nähe und ließ sie Dinge tun und sagen, die sie schon so manches Mal an den Rand des Abgrundes geführt hatten.

Beim letzten Mal ging sie einen Schritt zu weit.

Doch woher kam diese Seelenverwandtschaft?

Flora hatte eine wohlbehütete Kindheit in einem liebevollen Elternhaus genossen. Ihre Mutter war bis zu ihrem Tod immer für sie da gewesen. Sie umsorgte das kleine Mädchen, kümmerte sich um die Probleme des Schulkindes und tröstete Flora bei ihrem ersten Liebeskummer. Der Vater versorgte die Familie finanziell, das heißt, er war die ganze Woche unterwegs und arbeitete oft auch an den Wochenenden. Deshalb wurde Floras Großvater väterlicherseits zu einer wichtigen Bezugsperson für das Kind. Wann immer es Flora möglich war, besuchte sie den alten Herrn und fragte ihm Löcher in den Bauch. Opa König konnte so herrliche Geschichten erzählen. Auf jede Frage seiner Enkelin hatte er eine passende kleine Geschichte als Antwort parat gehabt. Nur über eine Sache schwieg er sich bis über den Tod hinaus beharrlich aus: über seine eigene Vergangenheit.

Irgendwann hatte Flora es aufgegeben, ihn danach zu fragen. Als ihr Großvater im Sterben lag, und sie weinend an seinem Bett saß, da endlich wollte der alte Mann ihr sein Geheimnis offenbaren. Aber die Zeit reichte nicht mehr aus und der Sinn der Worte, die er sprach, blieb Flora bis heute verborgen. Er redete von schwarzen Blutsaugern, die sein Leben zerstört hätten, dass seine Zeit kommen werde … und starb.

Und nun saß sie hier, umgeben von Hunderten Menschen, die ihr Schicksal teilten.

Das Amt!

Flora musste warten, sonst bekam sie kein Geld. Aber ohne Geld konnte man in diesem Land nicht leben. Dass man ihr hier eine neue Arbeit besorgen würde, glaubte sie nicht. Denn dann geschähe ja tatsächlich ein Wunder.

Sie schaute sich die anderen Menschen an. In vielen Gesichtern las sie Resignation und Gleichgültigkeit, in einigen Verzweiflung und in wenigen Trotz. Hätte die junge Frau in diesem Moment in einen Spiegel geschaut, wäre ihr bewusst geworden, dass sie zu den wenigen gehörte. Sie fühlte aber, dass da noch andere Menschen waren, die unter Umständen so wie sie selbst aufbegehrten und protestierten. Aber es waren viel zu wenige.

Egal, jetzt war zuallererst ihre Rache wichtig, danach würde sie weitersehen.

Gegen 16.00 Uhr verließ Flora endlich das Amt. In ihrer Tasche befand sich ein ganzer Stapel Formulare, die sie ausfüllen musste, um dann wieder einen Tag mit Warten zu verbringen.

Doch jetzt hatte sie ein anderes Ziel.

Der Friedhof!

So schnell ihre Beine sie trugen, lief die junge Frau in Richtung Weststadt. Die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht, sie genoss die wärmenden Strahlen. Wusste sie doch, dass es auf dem Friedhof um einige Grad kühler war als zwischen den Häusern der Stadt. So kam sie dann auch leicht fröstelnd am Grab ihres Großvaters an.

»Hallo Opa. Wie geht es dir?«, fragte sie wie immer.

Und wie jedes Mal glaubte sie, in ihrem Kopf eine Stimme zu hören.

»Mein Kind, mir geht es gut. Doch was ist mir dir? Du siehst gehetzt aus und ich spüre große … Sorgen.«

Flora wusste einfach, dass sie die Stimme nur in ihrem Kopf vernommen hatte, dennoch antwortete sie wie immer laut.

»Ach, Opa, es ist alles so ungerecht.«

»Kind, die Welt ist immer ungerecht, wenn man es zulässt. Das weißt du doch. Du musst dagegen etwas unternehmen. Habe ich dir das nicht immer wieder gesagt?«, vernahm Flora die Antwort in ihrem Inneren.

»Ja, aber diesmal ist es anders«, antwortete sie. »Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe gute Arbeit geleistet, meine Kollegen mochten mich und ich habe den Mund nur dann aufgemacht, wenn es nötig war. Das passte diesem Kerl nicht, also hat er mich rausgeschmissen.«

Schweigen!

»Opa, was soll ich nur tun?«

Flora stand am Grab, blass und mit Tränen in den Augen.

Da spürte sie, wie irgendetwas sich in sie hineingrub. Eine Präsenz, die nicht von dieser Welt war. Flora überlief ein eiskalter Schauer, dann fühlte sie eine merkwürdige neue Kraft in sich.

Mit einem Ruck straffte sie ihre Schultern und wischte sich die Tränen ab.

»Opa?«, fragte sie noch einmal.

Wieder Schweigen.

Nachdem Flora sich kerzengerade aufgerichtet hatte, fühlte sie die neue Präsenz nun ganz deutlich in sich drin. Tief verborgen noch, aber doch da. Und es grub sich langsam, aber stetig einen Weg in Floras Denken. Dabei war dieses neue Gefühl nicht unangenehm, im Gegenteil, irgendetwas daran kam ihr sogar bekannt vor, obwohl sie es nicht zuordnen konnte. Und deshalb fragte sie noch einmal in die Stille des Friedhofes hinein: »Opa? Bist du da?«

Immer noch Schweigen.

Nein, da war etwas. Eine kaum wahrnehmbare Reaktion, die sich einen Weg aus Flora hinaus suchte, ihn aber nicht finden konnte. Oder wollte.

Flora fühlte sich auf einmal frei. Ihr Kopf war leer, alle Sorgen und Nöte, die der Verlust ihrer Arbeit mit sich gebracht hatten, waren wie weggefegt. Es war, als sei sie einer undurchdringlichen Dunkelheit entstiegen und sah zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Licht.
Gedanken, die nicht ihre eigenen waren, lenkten die Schritte der jungen Frau zurück in die Stadt. Flora verspürte einen seltsamen Hunger. Nicht auf Brot, Wurst oder Käse, nein, es war Hunger auf etwas, woran sie nicht denken mochte. Das war einfach unmöglich!
Rot!
Eine Ampel ließ sie im Schritt verharren. Das rote Männchen leuchtete die Frau an wie ein leckeres, frisch gebratenes Steak. Medium! Flora leckte sich die Lippen. Das Hungergefühl wurde stärker.

Als die Ampel endlich auf Grün umsprang, atmete sie dennoch erleichtert auf und setzte ihren Weg fort. Wohin ihre Beine sie trugen, wusste sie immer noch nicht und es war ihr auch egal. Sie wusste in diesem Moment gar nichts, außer, dass sie genau dem Weg folgen musste, den ihre Beine ihr vorgaben.

Der Hunger wurde immer größer, intensiver. Doch er war anders. Es war nicht das Magenknurren, das die kannte. Dieser Hunger entstand … in ihrem Kopf.

Flora merkte nicht, wie sie immer mehr in die Fänge der anderen Präsenz geriet, sie funktionierte nur noch. Das heißt, ihr Körper tat es, ihre Seele schien sie verlassen zu haben.

Verlassen?

Nein!

Aber eine andere Seele hatte sich ihres Körpers bemächtigt. Die grausame Seele ihres Großvaters Rudolf König. Des Mannes, der sich bei seiner Enkelin über den Tod hinaus beliebt gemacht hatte, um sie zu gegebener Zeit benutzen zu können. Dass das so schnell geschehen würde, lag an einem glücklichen Zufall. Florentina trat früher als erhofft auf einen Nachkommen von Heiner Schwarz. Der trieb sie soweit in die Verzweiflung, dass sie für die unfreiwillige Seelenwanderung bereit war.

König und Schwarz, zwei Familien, die aufgrund eines Fluches seit undenklichen Zeiten verfeindet waren. Durch diesen Fluch war es den Seelen der erstgeborenen männlichen Nachkommen unmöglich, nach dem körperlichen Tod Ruhe zu finden. Sie waren dazu verdammt, den Körper des nächsten männlichen Nachkommen zu übernehmen, um die alte Fehde immer wieder fortzuführen, bis es in einer der Familien wieder eine Frau gäbe, die stark genug war, beide Hälften der Vampyrseele in sich zu vereinen.

Die Urahnen der Familien hatten sich vor Generationen wegen einer Frau verfeindet. Was beide nicht wussten: Diese Frau war eine Vampyrin! Sie inszenierte damals eine Dreierbeziehung, um ihrer Seele zur Unsterblichkeit zu verhelfen. Lange Jahre konnten sich Vampyre ungesehen auf dieser Welt bewegen und ernähren, doch es wurde immer gefährlicher. Sie war bereit, ihren Körper zu opfern, aber nicht ihre Seele. Doch die Seele eines Vampyrs ist zu stark für nur einen Menschen, deshalb teilte sie diese in die Vorfahren von Florentina König und Daniel Schwarz.

Von Generation zu Generation kam, was kommen musste. Die geteilte Seele der Vampyrin verlor bei jeder Wanderung ein kleines Stück ihrer Kraft. Doch die uralten Instinkte blieben bis zum heutigen Tag erhalten.

Als sie um die nächste Ecke bog, sah Flora im wahrsten Sinne des Wortes rot.

Die Leuchtreklame des NachtKlubs sprang ihr in eben dieser Farbe förmlich entgegen.

Etwas zwang sie, dort hineinzugehen. Als Flora das Innere des Klubs betrat, glaubte sie, den Verstand zu verlieren.

Rot! Rot! Rot!

Die gesamte Inneneinrichtung schien aus roten Möbeln zu bestehen; etwas, das ihr plötzlich nahezu körperliche Schmerzen verursachte. Selbst die Dame hinter der Bar trug ein rotes Kleid. Flora wollte weglaufen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht.

Plötzlich durchfuhr sie ein weiterer Schock.

Dan!

An einem der Tische sah sie Schwarz. Der Kerl, der sie gefeuert hatte. Dort saß er, arrogant und zugleich gut aussehend wie immer, und nippte in eben diesem Moment an einem Whiskyglas.

Er war allein.

Allein!

Das war die Gelegenheit.

Floras Rachedurst meldete sich neben dem Hunger und sie ging auf den verhassten Kerl zu. Er erkannte sie nicht, für ihn waren Untergebene nur gesichtslose Maschinen.

Flora setzte sich zu ihm an den Tisch. Er schaute auf und sah sie eine Weile an. Was er sah, schien ihm zu gefallen, also lud er die fremde Frau zu einem Drink ein.

Flora lernte an diesem Abend die andere Seite des verhassten Vorgesetzten kennen, doch ihr inneres Ich war nicht bereit, ihr Ziel aufzugeben. Es hatte fast vollends von ihr Besitz ergriffen und ließ die Frau Dans Einladung folgen, ihn nach Hause zu begleiten.

Der wahnsinnige Patient in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrischen Klinik macht Fortschritte. Die schweren Bisswunden an seinen Handgelenken, die er sich selbst zugefügt hatte, verheilen gut. Der entstandene Blutverlust wurde durch Blutkonserven ausgeglichen.

Allerdings behauptet er immer noch, dass die Wunden von einer Frau stammen, die er nicht kennt. Sie wäre vor seinen Augen von einer attraktiven Verführerin zu einem hassverzerrten Monster mutiert, das Rache an ihm nehmen wollte.

Die Polizei steht vor einem Rätsel. Es konnten Spuren einer zweiten Person in der Wohnung des Wahnsinnigen gefunden werden, doch der Ablauf des Abends ist anhand derer nicht rekonstruierbar. Man vermutet aber, dass der Mann wegen seiner Karrieresucht dem Wahnsinn anheimfiel. Sein Unterbewusstsein konnte mit der Schuld, so viele Existenzen zerstört zu haben, nicht umgehen.

Flora führt seit einigen Monaten ein geordnetes Leben. Durch ihr zweites Ich hat sie es geschafft, ein Wunder zu vollbringen.

Sie arbeitet jetzt in der Geschäftsleitung einer Firma und hat erst gestern wieder einen aufmüpfigen Angestellten entlassen.

Er hatte es gewagt, eine rote Krawatte zu tragen.

Rot!

Vorbei!
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